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„Der Club der Alten Schachteln“
… Dann fuhr er herum, war mit zwei Schritten am Fenster. Gerade noch rechtzeitig, um Irmtrud
Monn wie immer gefährlich knapp am Torpfosten des Firmenparkplatzes vorbeifahren zu sehen.
Zum letzten Mal.
„Und? Wie weit seid ihr nun?“
„Ziemlich
weit“,
sagte
Sigrid
Tormann
und
bemühte
sich,
das
letzte
Stückchen
Holländer
Kirsch
auf
der
Kuchenplatte
nicht
anzusehen.
Vielleicht
erbarmte
sich
ihre
Schwiegertochter.
Die
war
rank
und
schlank,
die
hatte
noch
einen
Stoffwechsel,
mit
dem
sie
sich
Sahnetorten
leisten
konnte.
Aber
Nina,
die
grübchenlosen
Arme
locker
aufgestützt,
balancierte
ihre
halbleere
Teetasse
elegant
zwischen
beiden
Händen
und
schien
sich
nur
für
Sigrids
Bericht
zu
interessieren.
Genau
wie
Lukas.
„Die
Spedition
ist
gebucht.
Das
Haus
gehört
endgültig
uns;
den
Papierkram
haben
wir
ja
schon
im
Februar
erledigt,
als
Trude
und
ich
runtergeflogen
sind.
Franka
hat
den
Vertrag
vor
einem
Notar
hier
unterschrieben.
Marietta
–
die
Gehilfin
unseres
Notars,
ein
echtes
Goldstück
–
hat
in
unserem
Auftrag
dafür
gesorgt,
dass
sämtliche
Zimmerwände
ausgebessert
und
frisch
gestrichen
worden
sind.
Das
hat
Trude
veranlasst.
Der
Vorbesitzer
hat
die
ganze
Elektrik
erneuern
lassen,
was
ein
Glück
für
uns
ist.
Dafür
haben
wir
neue
Geräte
gekauft;
die
müssten
inzwischen
auch
schon
installiert worden sein.“
„Herd, Kühlschrank, Spülmaschine – alles neu?“
Sigrid nickte und strich sich eine Strähne ihres kunstblonden, kinnlangen Haars hinters Ohr.
„Und
Waschmaschine.
Ist
besser
so,
meint
Trude.“
Wenn
keiner
mehr
zugriff,
sollte
sie
den
Kuchen
bald
abgedeckt
in
den
Kühlschrank
stellen:
Sahne
trocknete
schnell
an.
„Falls
mal
eine
Reparatur
nötig
ist,
kennen
sich
die
Leute
dort
auch
damit
aus.“
Allerdings
tat
längeres
Stehen
so
einer
Holländer
Kirschschnitte
auch
abgedeckt
nicht
gut.
Der
Blätterteig
weichte
durch
und
der
Zuckerguss
verlief.
So
sahnig-cremig,
so
verführerisch
rot
und
süß,
so
blättrig-zart
schmeckte
sie
nur
wenige
Stunden
lang.
Sigrid
schluckte,
strich
neben
ihrer
Tasse
den
glatten
Tischläufer
glatt.
„Alles andere geht natürlich mit. In drei Wochen kommen die Möbelwagen.“
Es
war
Verschwendung.
Konditorenkunst-Schändung.
Und
außerdem
unsinnig.
Wenn
auch
der
Geschmack
verwelkte,
die
Kalorien
blieben
die
gleichen,
heute
wie
morgen.
Außerdem
gingen
sie
heute
noch
essen,
Trude,
Franka
und
sie,
da
war
sowieso
alles
zu
spät.
Entschlossen
griff
sie
zum
Kuchenheber,
hievte
sich
das
Sahneteilchen
auf
den
Teller
und
begegnete
dem
Blick
ihres
Sohnes
halb trotzig, halb herausfordernd: Sag was wegen meines Blutdrucks, Lukas, los, trau‘ dich!
Aber
er
sagte
nichts,
der
Herr
Doktor.
Gut
so.
Er
war
selbst
schuld:
Was
schleppte
er
ihr
auch
so
ein
mageres
Ding
als
Schwiegertochter
an,
das
kaum
was
aß,
aber
zum
Kaffeetrinken
Kuchen
mitbrachte!
„Unser
Gemeinschaftsauto
ist
auch
schon
da:
ein
schwarzer
Fiat.
Der
wartet
an
der
Tankstelle
in
Castellovecchio,
bis
wir
ihn
abholen
kommen.
Und
dann
kann
unser
italienische
Abenteuer
endlich beginnen!“
„Italienisches
Abenteuer
–
ja,
das
wird
es
bestimmt!“,
lachte
Nina.
Wie
immer
eine
Spur
zu
grell,
fand
Sigrid.
Und
wie
immer
unterdrückte
sie
den
aufsteigenden
Hauch
von
Abneigung
sofort.
Sie
hatte
verflixt
noch
mal
nichts
zu
kritteln
an
Nina.
Lukas
liebte
sie,
sie
war
tüchtig,
daheim
und
in
der
Praxis
–
und
sie
hatte
Sigrid
Paul
geschenkt,
den
wunderbarsten
Enkel
der
Welt.
Dass
Paul
ein
Einzelkind
geblieben
war,
dass
er
inzwischen
in
einem
Elite-Internat
in
Bayern
lebte,
dass
Sigrid
ihn
viel
zu
selten
sah,
weil
er
immer
viel
zu
viel
anderes
zu
tun
hatte,
dafür
konnte
sie
Nina
schwerlich Vorwürfe machen.
„Wir
freuen
uns
schon
sehr
darauf“,
betonte
sie
nun,
griff
nach
ihrer
Kuchengabel
und
stach
sich
einen köstlichen Bissen ab. Zu einem zweiten kam sie nicht: Das Telefon klingelte.
„Entschuldigung.“ Sie erhob sich, eilte zum Apparat auf dem Sekretär. „Tormann …“
Die
Antwort
ließ
sie
herumfahren,
weg
vom
Tisch,
von
Lukas‘
und
Ninas
Blicken.
Eine
heiße
Welle
flutete in ihr auf, überrollte Hals, Wangen, Stirn.
„Hallo.
Hör
mal,
im
Moment
…
-
Ja.
Ja,
aber
…
-
Es
passt
gerade
schlecht,
ich
habe
Besuch
und
…
-
Nein!“
Es
war
schwierig,
die
Stimme
gleichmäßig
zu
halten,
ruhig,
nebensächlich,
auch
wenn
man
sich
dabei
mit
der
rechten
Hand
Kühlung
zufächelte.
„Nein,
auch
nicht,
dann
bin
ich
zum
Essen
verabredet.-
Stimmt.
-
Nein.-
Nein!“
Jetzt
wurde
sie
doch
lauter.
Fächelte
schneller.
Holte
tief
Luft.
„Wir telefonieren morgen. Also bis dann!“
Damit
legte
sie
auf.
Sie
unterdrückte
den
Impuls,
ihre
Hände
auf
die
heißen
Wangen
zu
pressen,
die
wahrscheinlich
auch
rotfleckig
geworden
waren,
genau
wie
der
Hals.
Verfluchte
Hitzewallungen!
Sie
machten
einen
nicht
nur
fertig,
sie
machten
einen
auch
hässlich.
Vielleicht
sollte
sie
doch
mal
was
dagegen
einnehmen.
Aber
als
Apothekerin
wusste
sie
zu
viel
über
mögliche
Nebenwirkungen,
deshalb
hatte
sie
es
bislang
vermieden.
Sie
hatte
Übergewicht
und
Bluthochdruck, da passte man mit weiteren Medikamenten besser ein bisschen auf.
Sigrid
ließ
sich
Zeit,
das
Gerät
sorgfältig
zurück
in
die
Ladestation
zu
stellen,
ehe
sie
sich
wieder
zum Tisch wandte, den Blick fest auf die Teekanne geheftet. Lächelnd.
„Manche Leute kennen einfach kein Nein. Noch Tee, Nina? Lukas?“
„Nein,
danke,
Mama,
für
mich
nicht
mehr.“
Ihr
Sohn
verlagerte
sein
Gewicht,
streckte
sich
ein
wenig. Er hatte noch nie lange stillsitzen können.
Auch Nina schüttelte den Kopf. „Wir müssen ohnehin langsam los. Ist ja schon fast halb drei.“
Jetzt ging auch noch die Türklingel.
„Du
lieber
Himmel,
das
ist
ja
wie
im
Taubenschlag
heute!
Ich
kann
mir
gar
nicht
denken
…“
Sigrid
flatterte zur Tür. „Trude!“
„Stimmt“, grinste Irmtrud Monn und warf sich in Revuepose. „
Ta-daaa
! Na, was sagst du?“
„Ich
bin
sprachlos“,
stieß
Sigrid
hervor
und
drückte
nun
doch
die
Hände
auf
die
Wangen.
Mit
runden
Augen
musterte
sie
den
Kopf
der
Freundin,
den
statt
der
üblichen
glatten
Haartracht
ein
perfekter Igel zierte.
„Neues
Leben,
neuer
Kopf“,
strahlte
Trude,
trat
ohne
weitere
Umstände
ein
und
besah
sich
zufrieden
im
Garderobenspiegel.
„Meine
Friseurin
wollte
mir
schon
lange
‚mal
was
Pfiffigeres‘
aufschwatzen.
Also
bin
ich
gleich
nach
der
Firmenfeier
zu
ihr
und
habe
‚Jetzt!‘
gesagt.
Und
das
ist
dabei herausgekommen.“
„Verrückt. Aber schick! Komm, gib mir deinen Mantel. Nina und Lukas sind da und …“
„Hoppla
–
störe
ich
etwa?
Ich
weiß,
wir
sind
erst
für
halb
sechs
verabredet,
aber
ich
war
zu
früh
fertig,
und
da
dachte
ich,
vielleicht
hast
du
einen
Kaffee
für
mich“,
sagte
Trude,
zog
ihren
Mantel
aus und eilte ins Wohnzimmer, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten. „Hallo, ihr zwei!“
Auch
hier
erntete
sie
reichlich
überraschte
Bewunderung.
Nina
betastete
die
graumelierte
Haarkugel
bewundernd
und
Lukas
verlangte
ein
neues
Foto
von
seiner
Patentante
„zum
Angeben.
Du siehst damit keinen Tag älter aus als ich!“
„Aber
du
lügst
besser.“
Geschmeichelt
rempelte
Trude
ihn
an
und
versprach,
für
das
Foto
zu
sorgen.
„Dann gehen wir jetzt mal“, meinte Lukas und küsste seine Mutter auf die Wange.
„Doch nicht meinetwegen?“, fragte Trude besorgt.
„Aber
nein“,
beschwichtigte
Sigrid,
„die
beiden
waren
sowieso
gerade
im
Aufbruch.
Du
kriegst
jetzt
gleich
deinen
Kaffee.
Leider
ist
der
Kuchen
alle
–
ich
könnte
höchstens
schnell
hinunter
zum
Bäcker…“
„Nur
keine
Umstände,
Kaffee
genügt.“
Trudes
Blick
fiel
auf
Sigrids
Teller.
„Oh,
hast
du
das
Stück
nicht mehr geschafft? Dann esse ich das. Gib mir einfach eine frische Gabel!“